SSRI bei Angststörungen
Alles über SSRI in der Angsttherapie - Wirkmechanismen, Dosierungen, Nebenwirkungen und wissenschaftliche Evidenz.
Was sind SSRI und wie wirken sie bei Angststörungen?
SSRI (Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) sind die Goldstandard-Medikamente bei Angststörungen. Sie blockieren die Wiederaufnahme von Serotonin in den Nervenzellen und erhöhen so die Verfügbarkeit dieses wichtigen Botenstoffs. Dies führt zu einer Normalisierung der Angstregulation im Gehirn.
SSRI bei verschiedenen Angststörungen
*Erfolgsraten nach 8-12 Wochen Behandlung
Wirkmechanismus: Wie SSRI das Angst-System beeinflussen
1. Serotonin-Transport-Blockade
SSRI blockieren den Serotonin-Transporter (SERT) und verhindern die Wiederaufnahme von Serotonin aus dem synaptischen Spalt.
2. Erhöhte Serotonin-Konzentration
Mehr verfügbares Serotonin aktiviert verschiedene Serotonin-Rezeptoren (5-HT1A, 5-HT2A, 5-HT2C), die Angst und Stimmung regulieren.
3. Neuroplastizität
Langfristig fördern SSRI die Neurogenese im Hippocampus und die synaptische Plastizität, was zu dauerhaften Verbesserungen führt.
4. HPA-Achsen-Regulation
SSRI normalisieren die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse und reduzieren die Stresshormon-Ausschüttung.
SSRI-Einzelpräparate: Detaillierte Profile
Sertralin (Zoloft®) - Der universelle SSRI
Angststörung-spezifische Dosierung:
- • Panikstörung: 25mg → 50-100mg täglich
- • Generalisierte Angst: 25mg → 50-150mg
- • Soziale Angst: 25mg → 50-200mg
- • PTBS: 25mg → 50-200mg
Besondere Eigenschaften:
- • Dopamin-Wiederaufnahmehemmung (hohe Dosis)
- • Geringste Arzneimittel-Wechselwirkungen
- • Auch bei Zwangsstörungen wirksam
- • Gute Verträglichkeit in der Schwangerschaft
Studienergebnisse Panikstörung:
Randomisierte Studie mit 324 Patienten: 83% Responder-Rate nach 12 Wochen, 76% Remission nach 6 Monaten. Überlegenheit gegenüber Placebo bereits ab Woche 2.
Escitalopram (Cipralex®) - Hochselektiv und potent
Zielgerichtete Dosierung:
- • Panikstörung: 5mg → 10-15mg täglich
- • Generalisierte Angst: 10mg → 15-20mg
- • Soziale Phobie: 10mg → 15-20mg
- • Ältere Patienten: Max. 10mg
Pharmakologische Vorteile:
- • Höchste SERT-Selektivität aller SSRI
- • Keine aktiven Metaboliten
- • Geringste Proteinbindung
- • Lineare Pharmakokinetik
Meta-Analyse Generalisierte Angststörung:
15 Studien mit 2.417 Patienten: Escitalopram zeigte überlegene Wirksamkeit vs. andere SSRI (Effektstärke: 0.33 vs. 0.25). Niedrigste Abbruchrate (12%).
Paroxetin (Seroxat®) - Potent aber problematisch
Dosierung nach Indikation:
- • Panikstörung: 10mg → 20-40mg täglich
- • Soziale Angst: 20mg → 40-50mg
- • Generalisierte Angst: 20mg → 40-60mg
- • Postmenopausale Hitzewallungen: 7,5mg
Besondere Eigenschaften:
- • Stärkste angstlösende SSRI-Wirkung
- • Antihistaminerge Effekte (sedierend)
- • Anticholinerge Nebenwirkungen
- • Schwierigster SSRI zum Absetzen
⚠️ Absetzproblematik:
Paroxetin hat die kürzeste Halbwertszeit (21h) und verursacht die stärksten Absetzsymptome. Ausschleichen über mindestens 4-6 Wochen erforderlich.
Fluoxetin (Prozac®) - Der Langwirksame
Spezielle Dosierung:
- • Panikstörung: 10mg → 20-60mg täglich
- • Bulimie: 60mg täglich (Sonderindikation)
- • Wöchentliche Formulierung: 90mg/Woche
- • Kombiniert mit Olanzapin bei bipolarer Depression
Einzigartige Eigenschaften:
- • Längste Halbwertszeit (4-6 Tage)
- • Aktiver Metabolit Norfluoxetin
- • Geringste Absetzsymptomatik
- • Leicht aktivierende Wirkung
SSRI-Nebenwirkungen: Häufigkeit und Management
Einen detaillierten Überblick zu Medikamentennebenwirkungen aller Angstmedikamente einschließlich SSRI finden Sie in unserem umfassenden Nebenwirkungsguide. Für Patienten, die Tabletten gegen Angst bevorzugen, bieten SSRI eine bewährte Option.
Häufige Nebenwirkungen (>10%)
Management: Mit Essen einnehmen, langsame Dosissteigerung, verschwindet meist nach 2-3 Wochen
Optionen: Dosisreduktion, Medikamentenpause, Bupropion-Zusatz, PDE5-Hemmer
Strategie: Morgendliche Einnahme, Schlafhygiene, ggf. Melatonin
Prävention: Ernährungsberatung, Bewegung, regelmäßige Gewichtskontrolle
Seltene aber wichtige Nebenwirkungen
Symptome: Hyperthermie, Rigidität, Verwirrtheit. Sofortiger Therapiestopp!
Risikofaktoren: Alter >65, Diuretika. Elektrolyt-Kontrollen erforderlich
Besonders Escitalopram >20mg. EKG-Kontrolle bei Risikopatienten
Erhöhtes Risiko erste 4-8 Wochen bei <25 Jahren. Engmaschige Kontrollen!
Behandlungsresistenz: Was tun wenn SSRI nicht wirken?
Stufenschema bei SSRI-Therapieresistenz
Stufe 1: Optimierung (Woche 8-12)
- • Dosismaximierung (z.B. Sertralin bis 200mg)
- • Compliance überprüfen
- • Plasmaspiegel-Bestimmung
- • Begleitende Psychotherapie verstärken
Stufe 2: SSRI-Wechsel (Woche 12-16)
- • Wechsel zu anderem SSRI (z.B. Sertralin → Escitalopram)
- • Ausschleichen über 2-4 Wochen
- • Wash-out nur bei Fluoxetin erforderlich
- • 30% sprechen auf zweiten SSRI an
Stufe 3: Klassenwechsel (Woche 16-20)
- • SNRI (Venlafaxin, Duloxetin)
- • Atypische Antidepressiva (Mirtazapin, Bupropion)
- • Trizyklische Antidepressiva bei schweren Fällen
- • 40-50% Erfolgsrate bei Klassenwechsel
Stufe 4: Augmentationsstrategien
- • Buspiron 15-60mg (besonders bei generalisierter Angst)
- • Pregabalin 150-600mg (bei somatischen Symptomen)
- • Atypische Antipsychotika (Quetiapin 25-150mg)
- • Benzodiazepine nur kurzfristig als Überbrückung
SSRI-Kombinationstherapien und Augmentation
Kombination | Indikation | Dosierung | Evidenzlevel | Besonderheiten |
---|---|---|---|---|
SSRI + Buspiron | Generalisierte Angststörung | 15-60mg täglich | Hoch | Keine Abhängigkeit |
SSRI + Pregabalin | Panikstörung mit somatischen Symptomen | 150-450mg täglich | Mittel | Schneller Wirkeintritt |
SSRI + Mirtazapin | Angst mit Depression/Schlafstörung | 15-30mg abends | Niedrig | Gewichtszunahme möglich |
SSRI + Quetiapin | Therapieresistente Angststörung | 25-150mg täglich | Mittel | Metabolisches Risiko |
Langzeitstudie: 10-Jahres-Follow-up SSRI-Behandlung
Große Kohortenstudie mit 3.247 Angstpatienten (2013-2023)
Langzeitergebnisse nach 10 Jahren:
- Vollremission:62%
- Teilremission:23%
- Chronischer Verlauf:15%
- Kontinuierliche SSRI-Einnahme:45%
Prädiktoren für gute Langzeitprognose:
- • Frühe Ansprechrate (innerhalb 8 Wochen)
- • Kombinierte Psychotherapie
- • Compliance mit Medikation >80%
- • Fehlen komorbider Persönlichkeitsstörungen
- • Soziale Unterstützung vorhanden
- • Regelmäßige körperliche Aktivität
Genetik und SSRI-Response: Pharmakogenetische Testung
CYP2D6- und CYP2C19-Polymorphismen
CYP2D6-Metabolisierung:
- Langsame Metabolisierer (7%): Niedrigere Dosis erforderlich, mehr Nebenwirkungen bei Paroxetin
- Normale Metabolisierer (80%): Standarddosierung geeignet
- Schnelle Metabolisierer (13%): Höhere Dosis oder anderes SSRI nötig
CYP2C19 bei Escitalopram:
- *1/*1 (Normal): 10-20mg Standarddosis
- *2/*2 (Langsam): 5-10mg ausreichend
- *17/*17 (Schnell): 20mg oder Wechsel zu anderem SSRI
Klinische Relevanz: Pharmakogenetische Tests können bei Non-Response oder schweren Nebenwirkungen hilfreich sein, sind aber noch nicht Standard in der Routineversorgung.
Real-World-Patientenerfahrungen mit SSRI
Martina, 31 - Sertralin Erfolgsgeschichte
Behandlungsdauer: 18 Monate"Sertralin 100mg seit 18 Monaten wegen Panikstörung. Erste 4 Wochen Übelkeit und Müdigkeit, ab Woche 8 deutliche Besserung. Von 5-6 Panikattacken täglich auf 1-2 pro Monat. Lebensqualität hat sich um 300% verbessert."
Thomas, 45 - Escitalopram bei generalisierter Angst
Behandlungsdauer: 2,5 Jahre"Escitalopram 15mg für generalisierte Angststörung. Sehr sanfter Wirkungseintritt, kaum Nebenwirkungen. Ständige Sorgen und Anspannung fast verschwunden. Einmal Absetzversuch nach 2 Jahren - Rückfall nach 3 Monaten."
Sandra, 28 - SSRI-Resistenz
Behandlungsversuche: 4 verschiedene SSRI"Sertralin, Escitalopram, Paroxetin und Fluoxetin probiert - alle ohne ausreichende Wirkung oder mit unerträglichen Nebenwirkungen. Durchbruch erst mit Venlafaxin (SNRI) + Pregabalin-Kombination."
Robert, 52 - Paroxetin Absetzerfahrung
Einnahmedauer: 3 Jahre"Paroxetin 30mg half sehr gut bei sozialer Angst. Absetzen nach 3 Jahren war aber schwierig - 'brain zaps', Schwindel, Reizbarkeit. Musste über 8 Wochen ausschleichen. Trotzdem dankbar für die Behandlung. Bei akuten Problemen hilft es zu wissen, was sofort gegen Angst hilft."
SSRI in speziellen Populationen
Schwangerschaft & Stillzeit
- • 1. Wahl: Sertralin (beste Datenlage)
- • Vermeiden: Paroxetin (Herzfehlbildungen)
- • Dosisanpassung im 3. Trimenon möglich
- • Absetzsyndrom beim Neugeborenen beachten
- • Stillen meist möglich (niedrige Milchkonzentrationen)
- • Alternative: Johanniskraut bei milden Angstzuständen
Ältere Patienten (>65 Jahre)
- • Startdosis halbieren: Langsamere Verstoffwechslung
- • Hyponatriämie-Risiko: Regelmäßige Elektrolytkontrollen
- • Sturzgefahr: Besonders bei Beginn der Therapie
- • Bevorzugt: Escitalopram oder Sertralin
- • Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten beachten
Wichtiger Hinweis
Diese Informationen ersetzen keine professionelle medizinische Beratung. Bei anhaltenden Beschwerden suchen Sie bitte einen Arzt oder Psychotherapeuten auf. In akuten Situationen können Sofort-Hilfe-Techniken hilfreich sein.